Intimität ist etwas Außergewöhnliches – sie offenbart die einzigartige Schönheit jedes menschlichen Lebens. Wahre Nähe, die aus tiefer Verbundenheit entsteht, ist ein stiller Akt des Widerstands. Sie schützt uns vor dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit, vor den Ungewissheiten des Lebens und vor den Zwängen der modernen Gesellschaft – ihrer Gleichförmigkeit, ihrer Oberflächlichkeit, ihren Ungerechtigkeiten und ihrer Gewalt.
Ich hatte das Glück, in die Häuser und Leben anderer Menschen einzutauchen. Jedes Mal wurde ich mit Fragen empfangen: Hast du schon gegessen? Wie geht es deiner Familie? Das waren nicht nur höfliche Floskeln – es waren Gesten aufrichtiger Anteilnahme.
Vielleicht können nur diejenigen, die tiefe Einsamkeit kennen, wirklich für andere da sein. Ist die Fotografie nicht letztlich eine Art, unserer eigenen Einsamkeit zu begegnen – und sie durch gemeinsame Momente zu überwinden, die zu Erinnerungen, ja sogar zu Kunst werden?
Am meisten fasziniert mich, den Alltag einzufangen, indem ich in ihm lebe und die Tiefe und Vielfalt menschlicher Gefühle würdige. Jede Begegnung beginnt mit Staunen, und mit der Zeit vertieft sich dieses Staunen zu einer Bewunderung für das Leben in seiner reinsten, ehrlichsten Form.
Ich habe Neugeborene ihren ersten Atemzug tun sehen, Kinder zu Eltern heranwachsen und geliebte Menschen sterben. Diese Momente erinnern mich daran, wie zerbrechlich wir sind – doch in den Blicken, Gesichtern und zarten Berührungen der Menschen, die ich fotografiert habe, fand ich auch eine Stärke und Zärtlichkeit, die unserem Dasein Sinn verleihen.
Dieses Buch ist ein Liebesbrief an all jene, denen ich begegnet bin. Sein Titel geht auf eine Zeile zurück, die ich an einem stillen Sonntagnachmittag in Neapels Rione Sanità schrieb – einer seltenen Stunde der Ruhe nach dem Mittagessen:
„Stille ist ein seltenes Geschenk in diesen Straßen, doch in ihrer leisen Offenbarung findet man die rohe, grenzenlose Seele einer vergessenen Menschlichkeit.“
Dieser Satz wurde sowohl zu einer Art künstlerischem Manifest als auch zu einer Reflexion meiner Vision.
Allzu oft basieren Geschichten über den Süden – besonders über Neapel – auf Lärm, Klischees und Spektakel. Doch unter dem Getöse verschwinden die wahren Leben dieser Gemeinschaften – Leben, die reich an Geschichte und Bedeutung sind.
Meine Arbeit geht den entgegengesetzten Weg. Stille ist ein Geschenk erzählt von Liebe und Einsamkeit, Leben und Tod, Trauer und Freude – doch vor allem von Intimität. Durch diese Bilder versuche ich, das Wesentliche des Lebens in den Beziehungen, Nachbarschaften und Familien, die ich kennengelernt habe, zurückzugewinnen.
Ich konzentriere mich auf Intimität, weil, wie Simone Weil schrieb, gewöhnliche Menschen der Wahrheit, Schönheit und Freude näher sind als jene, die sie bemitleiden – selbst wenn sie nicht immer wissen, wie sie dorthin gelangen.
Das Buch versammelt Fotos, die zwischen 2015 und 2021 in Neapels Rione Sanità, Cosenzas Santa Lucia und Torre del Greco entstanden sind.
Die Idee, drei meiner Projekte in einem Buch zu vereinen, stammt von Cécile Poimbœuf-Koizumi, Mitbegründerin von Chose Commune. Sie schlug vor, etwas Neues zu schaffen, das speziell für dieses Format konzipiert ist. Die Idee begeisterte mich – ich habe diese Arbeiten stets als Kapitel einer einzigen Geschichte betrachtet.
—Ciro Battiloro
Als wir das Archiv durchgingen, erkannte die Lektorin sofort die Verbindung zwischen meinen Projekten. Der rote Faden ist meine Nähe zu den Menschen und ihren privaten Welten.
Sogar das Design des Buches spiegelt dies wider. Wir wählten ein Coverpapier, das sich anfühlt wie etwas, das man nah bei sich trägt – weich, strukturiert, intim. Das Buch hat eine gelebte Anmutung – rau an den Rändern, doch warm, mit einem Ton, der irgendwie an den Komfort von Zuhause erinnert. Beim Aufschlagen begrüßt einen eine alte Karte Neapels, die den Eindruck vermittelt, man blättere durch etwas ganz Besonderes. Die Bilder fließen natürlich über die Seiten, ihr Rhythmus spiegelt die Körpersprache der abgebildeten Menschen wider.
Am Ende findet sich ein Text von Erri De Luca. Ich traf Erri während einer Wanderung in Agerola auf dem „Cammino degli Dei“ (Weg der Götter). Wir kamen ins Gespräch über Fotografie und das Buch, das ich gerade fertigstellte. Nachdem er die Fotos und das PDF gesehen hatte, schrieb De Luca seinen Beitrag nur wenige Tage später.
Der „vascio“ ist eine typische Wohnform in Neapels historischen Vierteln, wie dem Sanità-Viertel. Diese kleinen, einräumigen Behausungen sind oft dunkel und im Erdgeschoss gelegen, ursprünglich als Lagerräume gebaut.
© Ciro Battiloro