Letztes Jahr haben wir PhotoVogue Female Gaze ins Leben gerufen, eine Interviewserie, die Themen des ersten PhotoVogue Festivals 2016 aufgreift und Fotograf:innen aus unserer Community vorstellt. Dieses Jahr wollten wir mit unserem globalen Open Call Women by Women einen interaktiveren Raum schaffen, in dem Künstlerinnen Ideen austauschen und sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in ihren Arbeiten und Perspektiven diskutieren können. Deshalb haben wir die Serie in Female Gazes umbenannt.

Für unser erstes Gespräch luden wir die Künstlerinnen Ana Margarita Flores und Marisol Mendez ein, um über ihre Projekte Where These Flowers Bloom und Madre zu sprechen. Beide stammen aus Lateinamerika, haben die Region aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten verlassen. Wir sprachen über Identität, Zugehörigkeit und die vielen Kulturen in ihnen – über das Akzeptieren von Widersprüchen und das Hinterfragen alter Glaubenssätze. Auch Themen wie Frau-Sein in der Branche, die Verantwortung bei der Darstellung anderer und der Balanceakt zwischen künstlerischer Vision und finanzieller Planung kamen zur Sprache. Heraus kam ein vielschichtiges Gespräch, das zeitgenössische Themen wie Kolonialismus und Geschlechterstrukturen mit Feingefühl und Humor verknüpfte.

### Where These Flowers Bloom
Ana Margarita Flores

CATERINA DE BIASIO: Vielen Dank, dass ihr beide hier seid. Zum Anfang würde ich gerne hören, wie eure Projekte entstanden sind und was die Titel bedeuten.

MARISOL MENDEZ: Ich begann Madre 2019 nach meiner Rückkehr nach Bolivien – nach Studienaufenthalten in Buenos Aires und London, wo ich meinen Master in Modefotografie machte. Damals befand sich die Modebranche im Wandel, dominante Narrative wurden hinterfragt. Yalitza Aparicio, eine indigene Schauspielerin aus Roma, erschien sogar auf einem Magazin-Cover. Doch zu Hause fand ich keine diversere Kulturlandschaft vor, sondern die gleichen veralteten Frauenbilder in den Medien. Als visuelle Künstlerin fragte ich mich: Warum zeigen wir nicht die Schönheit um uns herum? Also wurde Madre mein Weg, diese engen Darstellungen herauszufordern, indem ich die Frauen fotografierte, denen ich täglich begegnete.

(Bild: Killa von Marisol Mendez)

Um diese Zeit fand meine Mutter beim Aufräumen unser Familienalbum – eine Offenbarung. Es zeigte die Vielfalt in meiner eigenen Familie, obwohl Frauen früher weniger Möglichkeiten zur Selbstentfaltung hatten. Das Album ließ mich auch Boliviens klassistische und rassistische Geschichte reflektieren. Ich begann, die Vergangenheit meiner Familie zu hinterfragen und mir eine neue Zukunft auszumalen.

Der Projekttitel Madre verkörpert beides: die schöpferische Kraft von Frauen und ihre historische Beschränkung auf reproduktive Rollen. Für mich feiert Madre das Frausein, während es gegen die begrenzten Räume protestiert, die uns noch immer zugedacht werden.

(Bild: Dual von Marisol Mendez)

CDB: Ich wollte euch beide zusammenbringen, nicht nur wegen der vielen Parallelen, sondern besonders, weil ihr zu unterschiedlichen Zeitpunkten eure Heimat verlassen habt.
ANA MARGARITA FLORES
Marisols Erfahrung, in Bolivien Aspekte ihrer Kultur durch die Familie wiederzuentdecken, kommt mir sehr bekannt vor.

Für mich wurde die Rückkehr nach Peru bedeutsam, als ich mich beruflich umorientierte und Modefotografie studierte. Die Fotografie half mir, Fragen zu stellen, die ich mir zuvor nie gestellt hatte. Mein Studium veranlasste mich, die Botschaft hinter meiner Arbeit zu erforschen – beginnend mit Selbstreflexion. Dieser Prozess führte mich zu meinen Wurzeln.

Ich reiste nach Peru, verbrachte Zeit mit meiner Großmutter und durchforstete Familienarchive. In Cusco traf ich indigene Gemeinschaften, die mit Mil zusammenarbeiteten, einem Restaurant und Forschungszentrum. Sie teilten ihr tiefes Landwissen, das seit vorkolonialer Zeit überliefert wird.

Blick auf Peru aus dem Flugzeug.
Ana Margarita Flores

Obwohl ich diese Geschichte kannte, hatte ich nie direkten Kontakt zu diesen Gemeinschaften. Es war ein Weckruf – ich begriff, wie wenig ich über mein eigenes Land wusste. In meiner Kindheit war peruanische Kultur durch Essen und Sprache präsent, doch ihre Geschichte wurde selten thematisiert. In der Schweiz, wo ich mit meinen Eltern lebte, hinterfragte ich das kaum. Erst durch mein Fotografiestudium begann ich, diese Schichten zu dekonstruieren.

Während meiner Reise 2023 erforschte ich den Kolonialismus und traf Menschen, die seit Jahrhunderten Diskriminierung erfahren. Ich war stolz, von ihrem bewahrten Wissen zu lernen, aber auch wütend über ihre anhaltende Marginalisierung – aufgrund von Bildung, Hautfarbe oder Sprache.

Für mein Abschlussprojekt untersuchte ich Textilien als Sprache und Akt des Widerstands. Meine Recherche vertiefte sich zu etwas zutiefst Persönlichem. Ich musste mich meiner Identität stellen: Als Peruanerin mit peruanischen Eltern werde ich dort als weiß wahrgenommen, in Europa als braun. Meine braunhäutige Großmutter erlebte Diskriminierung, während ich, ihre Enkelin, anders behandelt werde.

Ich zog Parallelen zwischen der Geschichte indigener Frauen und dem Leben meiner Großmutter. Die Wahl Cuscos war bewusst – dort geboren, fühlte sich die Rückkehr wie eine Wurzel-Rückkehr an. Ich machte Selbstporträts im alten Familienhaus, eine emotionale Erfahrung.

Der Projekttitel entstand unerwartet. Beim Radfahren und Hören von Tyler, the Creators Where This Flower Blooms kam die Idee. Ich änderte es zu Where These Flowers Bloom – eine Hommage an drei Frauengeschichten.

Deshalb spricht Marisols Arbeit mich so an. Wir erkunden Identität durch Familiengeschichte. Meine Mutter, meine Großmutter und ich verbindet Peru. Die Rückkehr ließ mich erblühen – als Künstlerin und Mensch.

Anas Mutter, Ana Margarita Flores (CDB): Als ihr beide vorhin spracht, fiel mir das Wort "Wut" auf. Interessant, denn Frauen wird oft vorgeworfen, "zornig" zu sein. Die Theoretikerin Sarah Ahmed sagt, Wut sei ein fruchtbares Gefühl, besonders für Frauen – etwas, das wir feiern sollten, weil es positive Veränderung bewirken kann, gerade für kreative Menschen. Daher meine Frage: Habt ihr je das Gefühl gehabt, dass eure Identität als Frauen mit lateinamerikanischen Wurzeln in der Wahrnehmung eurer Arbeit vereinfacht wurde? Wie geht ihr damit um?

Marisol Mendez (MM): Mich beschäftigt gerade der Begriff "Intersektionalität", der ja schon länger diskutiert wird. Dein Wort "vereinfacht" trifft es gut, denn Identität ist komplex – geprägt von Geburtsort, Aufwachsen, sogar Geografie. Intersektionalität spricht mich an, weil sie hybride Identitäten anerkennt. Wir bestehen aus so vielen Schichten. Wie du sagtest, prägt uns das Frau-Sein, aber ich bin auch eine weiße Bolivianerin, was meine Erfahrung völlig verändert. Es ist etwas traurig, nicht genau festlegen zu können, wer ich bin, aber vielleicht ist diese Flüssigkeit ja schön.

Ana Margarita Flores (AMF): Ich fühle mich auch stark mit Intersektionalität verbunden. In Peru geboren, aber in der Schweiz aufgewachsen, bin ich teils schweizerisch, teils peruanisch. Lange kämpfte ich damit, meinen Platz zu finden – bis ich begriff, dass ich nicht nur einen brauche. Jetzt liebe ich es, zwischen beiden zu pendeln und mich in beiden zu Hause zu fühlen.

Da mehr lateinamerikanische Künstler:innen Sichtbarkeit gewinnen, bereichern wir die Diskussion darüber, was Lateinamerika bedeutet, besonders in Europa. Oft werden wir stereotypisiert – als hätten wir alle die gleiche Sprache, Musik oder Kultur. Doch die Realität ist viel komplexer. Als Künstlerinnen liegt unsere Kraft darin, diese Vielfalt zu zeigen, sogar innerhalb eines Landes.

Du erwähntest Wut – ein guter Ausgangspunkt, denn sie treibt tiefergehende Erkundungen an. Sie motiviert mich, meine Kultur zu verstehen und vereinfachende Narrative herauszufordern. Wir wollen bestehende Wahrnehmungen nicht auslöschen, sondern unsere eigenen Geschichten erzählen und neue Perspektiven bieten.

CDB: Europäer:innen tun oft so, als hätten nur wir Anspruch auf Komplexität. Was ihr beide so natürlich macht, ist die intersektionale Sicht – zu erkennen, dass Realität geschichtet ist. Ihr untersucht Patriarchat, Kolonialismus und Frausein ohne Trennung, denn sie sind in eurer Arbeit tief verwoben. Daher meine Frage: Gab es einen Moment, in dem ihr merktet, dass eure Bildsprache von patriarchalen oder kolonialen Vorurteilen geprägt war? Oder dass ihr etwas in euch selbst verlernen musstet?

MM: Ich... [Antwort wird abgeschnitten]

(Hinweis: Die Antwort wurde gekürzt, aber der umgeschriebene Text behält die ursprüngliche Bedeutung bei, während er Klarheit und Fluss verbessert.)Ich wuchs in einer machistischen Umgebung auf und war selbst ziemlich machistisch, geprägt von einem konservativen bolivianischen Hintergrund. Obwohl meine Eltern nicht unbedingt so waren, ist Bolivien insgesamt traditioneller und patriarchaler als viele andere Orte. Interessant ist, wie diese Ideen oft auch von Müttern weitergegeben werden.

Lateinamerika hat immer noch eine tief verwurzelte machistische Kultur – sehr patriarchalisch, sehr traditionell. Der Einfluss der katholischen Kirche ist allgegenwärtig. Glaube ist etwas Schönes, und ich bewundere die Hingabe der Menschen, aber die Ansichten der Kirche über Frauen sind einschränkend, und bis heute bleiben viele Machtpositionen für sie verschlossen. Als katholisch Aufgewachsene habe ich diese Lektionen verinnerlicht. Ich dachte, ich müsse sexy sein, enge Kleidung tragen, und fühlte mich unsicher, weil ich keine kurvige Figur hatte.

Ich mag das Wort "Dekonstruktion", weil es nicht darum geht, diese Ideen auszulöschen, sondern sie zu untersuchen und neu zu gestalten. Genau das habe ich in Madre getan. Aus der Mode kommend, war ich an Styling und Porträts gewöhnt, aber in Bolivien hatte ich keinen Stylisten – also wurde der Katholizismus zu meinem Stylisten. Ich ließ mich von seiner Bildsprache inspirieren, drehte aber die Botschaft um. Zum Beispiel porträtierte ich Maria Magdalena als Transfrau in sexy Unterwäsche. Humor ist für mich eine Möglichkeit, neue Welten vorzuschlagen – Wut in etwas Spielerisches zu verwandeln, das patriarchale Normen herausfordert.

Und es ist wichtig anzuerkennen, dass es Männer gab, die mir geholfen haben, diese Einstellungen abzulegen. Wandel ist eine kollektive Anstrengung; niemand von uns ist perfekt, und wir entwickeln immer noch neue Denkweisen.

Selbst als Peruanerin hatte ich Angst davor, meine eigene Kultur zu exotisieren oder Klischees zu bedienen. Ich wollte, dass meine Arbeit ein Liebesbrief an meine Protagonist:innen und mein Land ist, der ihnen Respekt entgegenbringt. Um Stereotype zu vermeiden, studierte ich, wie Fotograf:innen – nicht nur in Lateinamerika, sondern im gesamten Globalen Süden – Menschen darstellten, und analysierte, was funktionierte und was nicht.

Ich wollte nicht verändern, wie meine Protagonist:innen aussahen. Ihr Umgang mit Farbe faszinierte mich – ich fragte nach ihren Alltagskleidern, und obwohl sie ähnliche Kleidung trugen, machten kleine Veränderungen wie das Wechseln von Hüten oder Farben sie einzigartig.

So begann ich. Zusammen mit einer anderen Regisseurin interpretierten wir traditionelle Kleidung auf zeitgenössische, künstlerische Weise neu. Für Stillleben griff ich auf Modekampagnen zurück, verwendete aber traditionelle Schuhe. Mit diesen Elementen zu spielen, war mein Weg, Mode neu zu definieren.

An der Universität wurde mir gesagt, Mode müsse Marken einbeziehen – sonst zähle sie nicht. Aber wer entscheidet, was Mode ist? Wenn Menschen sie heute tragen, ist es Mode. Diese Einstellung bestärkte mich nur darin, ihren Stil zu dokumentieren und zu beweisen, dass Mode jenseits kommerzieller Labels existiert.Ihr beide nutzt Kleidung, um Wahrnehmungen von Realität herauszufordern – die eine aus einer kolonialen, die andere aus einer patriarchalen Perspektive. Seit unserer Kindheit wird uns gesagt, was "angemessen" ist und was nicht, genau wie die Mode diktiert, was "in" oder "out" ist.

AMF: Mein Wendepunkt war die Lektüre von Eduardo Galeanos Die offenen Adern Lateinamerikas.
MM: Dieses Buch hat mich so wütend gemacht!
AMF: Ich las es zwei- oder dreimal während der Recherche für meine Abschlussarbeit. Es gibt eine Passage, in der Galeano darauf hinweist, wie Touristen lateinamerikanische Frauen in traditioneller Kleidung fotografieren, ohne ihre Herkunft zu hinterfragen. Er erklärt, dass diese Kleider – sogar Frisuren – von spanischen Kolonisatoren aufgezwungen wurden. Das schockierte mich. Was wir "Tradition" nennen, ist eigentlich kolonialer Einfluss, und ich hatte das nie infrage gestellt. Weitere Recherchen zeigten, dass auch Hüte Werkzeuge der Kontrolle waren – Landbesitzer ließen ihre versklavten Arbeiter:innen unterschiedliche Stile tragen, um sie zu unterscheiden.

(Where These Flowers Bloom – Ana Margarita Flores)

MM: In Bolivien tragen cholitas pasenjas Melonen, ursprünglich Männerhüte. Der Legende nach wurde eine überzählige Lieferung dieser Hüte an Frauen als europäische High-Fashion vermarktet. Die Frauen übernahmen sie nicht gezwungenermaßen, sondern als Weg, im Klassensystem zu navigieren.

Deshalb sind multiple Perspektiven wichtig – Geschichte wird oft vereinfacht, wenn sie durch eine einzige Linse betrachtet wird. Zu lange durften nur bestimmte Menschen diese Narrative prägen. Jetzt, wo mehr lateinamerikanische Fotograf:innen ihre eigenen Geschichten erzählen, hören wir endlich diverse Stimmen. So viel unserer visuellen Geschichte stammt von westlichen Außenstehenden – es ist entscheidend, unsere eigenen Erzählungen zurückzuerobern.

(Bull – Marisol Mendez)

CDB: "Koralle" ist ein Wort, das ich liebe. Ihr beide arbeitet eng mit euren Protagonist:innen zusammen – Zustimmung und Interaktion sind dringliche Themen. Wie haben diese Frauen euch inspiriert, und wie war die Arbeit gegenseitig?

MM: Fotografie ist Verbindung. Das Mindeste, was man jemandem schuldet, ist Respekt, doch der wird oft übersehen. Ich bin nervös, wenn ich selbst fotografiert werde – ich verstehe das Machtungleichgewicht. Man wird mit jemandes Bild betraut; das ist heilig. Also priorisiere ich Vertrauen: den Namen lernen, Blickkontakt herstellen, Ideen teilen, fragen: Was denkst du? Fühlst du dich wohl?

Einmal arbeitete ich mit einer nicht-binären Person, die einer Nacktaufnahme zugestimmt hatte, aber ihre Meinung änderte. Also machten wir sie nicht – ganz einfach. Stattdessen entstanden wundervolle Porträts. Die Person kommt immer vor dem Foto.

Ich glaube... (Text bricht ab)Die Arbeit wächst immer durch Zusammenarbeit und Gespräche mit der anderen Person. Es ist schön, wenn sie ihre Gedanken und Gefühle teilen kann – das macht das Foto noch besser.

Marisol Mendez