Vor etwa einem Jahr postete ich meinen ersten TikTok. Es war eine Frühlingsleseliste – einfach ein Selfie von mir, wie ich mit einem Buch in der Hand schmollte, unterschrieben mit: „Warum ist meine Frühlings-TBR sooo sexy?“ (TBR steht für „to be read“, also „zu lesen“). Ich drückte auf „Posten“ und erwartete… nichts. Vielleicht ein paar Mitleids-Likes von meinen Freundinnen, die meine Social-Media-Aktionen immer gnädig dulden.
Dann bekam das Video 90.000 Aufrufe. Neunzigtausend. Um das einzuordnen: Das sind genug Menschen, um ein Stadion zu füllen oder eine Buchhandlung leer zu kaufen. Die Kommentare prasselten ein – Sätze wie „Das ist mein Zeichen, endlich meine dreijährige Leseflaute zu brechen“, „OMG, die klingen alle mega!“ und „Ich habe sie sofort alle gekauft.“ Zuerst war ich schockiert. Dann dachte ich: Vielleicht sollte ich das weiter machen?
Am Anfang fühlte es sich komisch an, in die Kamera zu sprechen. Ich übte, nicht zu blinzeln, vermied Sätze, die mit „Ähm“ begannen, und fragte mich, ob meine Stimme immer so klang oder ob ich mir eine „TikTok-Stimme“ antrainierte. Mit der Zeit wurde es leichter. Irgendwann plauderte ich einfach, als würde ich einer Freundin eine Sprachnotiz schicken.
Ich lese eh schon drei bis fünf Bücher im Monat, also hatte ich genug Gesprächsstoff. Aber mehr noch wollte ich Bücher hervorheben, die ich für unterschätzt hielt – und ich sehnte mich nach einer Community, mit der ich darüber diskutieren konnte. Seitdem poste ich regelmäßig, von „weird-girl fiction“ bis zu einsteigerfreundlichen Klassikern, plus meine monatlichen Favoriten.
### Was ist BookTok?
BookTok ist TikToks literarische Ecke, wo Nutzer:innen Empfehlungen, Rezensionen und kreative Buchinhalte teilen. Ein Ort für Inspiration und Gleichgesinnte.
Der Einfluss ist real: Millionen Bücher verkaufen sich jährlich dank BookTok. Ein Beispiel? Willbrand, ein kämpfendes Antiquariat in Köln, rettete sich vor der Schließung, als die Besitzerin anfing, auf TikTok über Klassiker zu sprechen – und neue Kundschaft anzog. Oder Dostojewskis „Weiße Nächte“ (erschienen 1848), das über Nacht bei Amazon ausverkauft war, nachdem BookToker Jack Edwards seine Lieblingszitate teilte.
### Wer ist auf BookTok – und was wird gelesen?
Das Publikum ist jung und weiblich: 93% meiner Follower sind Frauen, 57% zwischen 18–24, 34% zwischen 25–34. Eine UK-Umfrage 2022 zeigte, dass 59% der 16–25-Jährigen BookTok ihre Leseliebe verdanken. TikTok ist damit eine Schlüsselkraft in der Buchbranche – gleichauf mit Instagram und YouTube.
Doch die Frage bleibt: Wie bringt eine Plattform für kurze Aufmerksamkeitsspannen junge Menschen dazu, sich auf Bücher einzulassen – ein langsames, immersives Medium?
Anders als Instagrams polierte Ästhetik (beige Feeds, weichgezeichnete Selfies) lebt TikTok von rohen Momenten: Leute weinen vor der Kamera, analysieren Red-Carpet-Looks vom Bett aus oder reden mit theatralischer Mimik über Bücher. Diese Echtheit zog mich an. Geht es in Literatur nicht auch darum? Nicht nur passiv zu konsumieren, sondern intensiv zu fühlen – Wut, Trauer, Besessenheit.
(Aktuelle BookTok-Bestseller-Analysen zeigen…) Bestsellerlisten von Barnes & Noble, Pan Macmillan und anderen zeigen ein klares Muster: Fast alle Top-Titel sind Romance, Fantasy oder New Adult. Während Kritiker oft literarische Werke und Promi-Biografien besprechen, hat BookTok eine eigene lebendige Lesekultur geschaffen – mit einstigen Nischengenres, die früher nur in Buchclubs oder Foren diskutiert wurden.
### Die Schattenseiten von BookTok
Doch bevor ich mich im Hype verliere: BookTok hat Schwächen. Zum einen werden dieselben Bücher gnadenlos gepusht (wie oft kann ein „Geheimtipp“ Bestsellerlisten anführen, bevor er keiner mehr ist?). Dazu kommt der Druck, unrealistisch schnell zu lesen – manche Creator empfehlen kurze Bücher nur, um Jahresstatistiken zu erhöhen, als wäre Lesen ein Wettkampf. Und nicht zu vergessen: BookTok animiert oft zum Neukauf, obwohl Bibliotheken und Secondhand-Läden genauso gut sind.
Besorgniserregender ist der „Dark Romance“-Trend, in dem Stalker zu Liebesinteressen werden, Schüler:innen Lehrer begehren und entführte Frauen sich in ihre Entführer verlieben. Solche Bücher verklären toxische Dynamiken und normalisieren gefährliche Machtgefälle – problematisch, besonders heute.
Hinzu kommt mangelnde Vielfalt. Eine Uni-of-Toronto-Studie (2024) fand: Zwar gibt es auf BookTok mehr Geschlechterdiversität als in traditionellen Verlagen, doch viele marginalisierte Stimmen bleiben außen vor. Genau deshalb bin ich auf BookTok: nicht um Mainstream-Titel blind zu hypen, sondern um unterschätzte Autor:innen zu fördern, Debüts zu feiern – und aus einem einsamen Hobby etwas Gemeinschaftliches zu machen.